Johannes Girmindl

 Sendeschluss

Wenn am frühen Abend, nach der Heimkehr aus einem relativ belanglosen Job, das Gehirn sich noch ausgeruht anfühlt, der Körper sich aber zur Sicherheit  schon recht nahe an der Ladestation aufhält, dann setzt sich unser Protagonist meist vor die Mattscheibe. Man kann es auch TV Gerät oder Fernseher nennen, Glotze wäre ein wenig zu platt. Aber egal, all diese unterschiedlichen Ausdrücke ändern auch nicht gerade viel an der Aussage dieses Wortes, mit der wir uns aber nicht wirklich jetzt und hier auseinandersetzen wollen. Warum auch. Es geht hier um etwas gänzlich Anderes. Also, wie gesagt, nach einem durchschnittlich nicht auslastenden Arbeitstag sitzt der Durchschnittsfernseher auf seiner Polsterbank und schaltet via Fernbedienung sein Gerät ein, das sich ohnehin den ganzen Tag über im Standbymodus befunden hat. Wie üblich zeigt das dabei entstehende Bild entweder Serien, von lustig bis lieblich, allesamt natürlich eh grottenschlechter Schwachsinn auf unterstem Niveau, oder Pseudoinformationsgequatsche für Senioren oder geistig veraltete Couchpotatoes, einmal abgesehen von den Werbespots im Minutentakt. Zusätzlich zu den Werbeblöcken während der Vorabendserien, wie dieser Schrott offiziell genannt werden möchte, haben sich die meisten Sender auf die Konkurrenz abgestimmt. Die Werbung ist ja grundsätzlich lauter als das normale Programm. Somit justieren sie bitte immer die Lautstärke von dem gezeigten Programm aus, das einem ja verdächtig leise vorkommt, hat man sich erst in einer Werbepause zugeschaltet. Es gibt aber auch immer wieder Sender die Werbung anscheinend “für zwischendurch” anbieten. (Nicht jetzt zu verwechseln mit diesen wunderbar idiotischen Shoppingkanälen, bei denen ich nicht selten nur darauf warte, dass ein Aufseher oder Wärter ins Bild läuft. Zumindest dürften die dort beschäftigten Moderatoren nicht optimal „eingestellt” sein, wie es im Fachjargon heißt, wenn jemand nicht die für ihn ausreichende Dosis an Medikamenten bekommt.)

Nun, unser Freund hat sich natürlich ausgestattet mit einem Frozen TV Meal, einem wunderbaren Wort der englischen Alltagssprache, das ich vor Jahren einmal in einer amerikanischen Fernsehsendung (na, sehen sie!) aufgeschnappt habe. Bei uns würde man das als Fertiggericht, Tiefkühlgericht oder nennen wir die Scheiße gleich beim Namen, Chefmenü bezeichnen. Diese Nudeln zum aufgießen und zweimal umrühren sind ja jetzt auch ganz schön in Mode. Der klassische alleinstehende, aber ältere Semester, begnügt sich nach wie vor mit Brot und Wurst oder diversen Kleinstücken an Speisen, die allesamt mit Stolz das Prädikat Kalte Platte tragen dürfen, oder aber auch eine Gulaschsuppe aus der Dose, ein Szegedienergulasch aus selbigem Behältniss, beides immer wieder gern gesehene Gäste auf dem Speiseplan des Altsemestrigen. Die nicht ganz so Alten, haben da schon andere Ansprüche im Laufe der fetten Jahre kultiviert und gehen nicht unter einem Putengeschnetzeltem mit Rahmsoße oder einem Zwiebelrostbraten zum TValtar. Also kurzes Warten, bis zum Ping halt. Dann is er fertig, weil bitte wer hat schon einen Dampfgarer zu hause? Und die, die einen besitzen, kennen wahrscheinlich dann auch das Menü vom Chef nicht. Aber ich muss mich wieder entschuldigen, weil ich bemerke mit Schmerzen, dass ich so was von abschweife, dass es schon weh tut.

Wir sitzen also nun mit unserer Hauptfigur, der endlich einmal nicht ein sogenannter underdeveloped Charakter sein darf, vor dem Fernseher und schauen uns durch den Vorabenddschungel von geschätzten vierzig Programmen. Wie es den Anschein hat, sind wir hier in einem relativ einfachen Durschnittstvkonsumentenhaushalt. Andere kommen ja auf  zweihundert Programme. Die Beschreibung eines solchen Abends würde aber selbst meine Vorstellungskraft sprengen und Feldforschungen auf diesem Gebiet möchte ich, mir zu liebe, nicht durchführen. Die überwiegende Mehrzahl dieser Comedyserien, wie es ja nun heißt, laufen ja darauf hinaus, dass man punkt genau vermittelt bekommt, wann denn die Pointe zuschlägt. Konservengelächter verleitet bzw. hilft uns und geleitet uns sozusagen zum Höhepunkt. Und ich möchte kurz einmal privat etwas einwerfen. Ich brauch das schon. Ich hab mich dabei ertappt, dass ich in fast allen Fällen nicht wusste, dass es jetzt gerade lustig war. Also wenn da niemand gelacht hätte, ich wär um all die Pointen umgefallen. Nun gut, vielleicht bin ich ja auch nicht gerade das, was man ein optimales Zielpublikum nennt. Zu alt vielleicht noch nicht, zu irre möglicherweise, ein Nischenpublikum. Vielleicht sitzt man in einer Nische, damit es nicht ungut auffällt. So wie Kammersänger, aber lassen wir das.

In den Werbepausen hat unser Freund gemächlich durchgeschalten. Herrn Zappa möchte ich in diesem Zusammenhang nicht schänden, und somit auch etwas von den obskureren Lokalsendern, mitbekommen. Je nach Jahreszeit Schneegestöber im Gebirge, inklusive eingeschneiter und von der Umwelt abgetrennter Dörfer, die einerseits vom Tourismus & vom Schnee eben leben, andererseits dann soviel aber auch nicht brauchen. Da wäre Gletscherschifahren auf Grund  von Schneemangel um einiges willkommener; oder aber irgendein Exhibitionist am Baggersee, dort wo bekanntlich Bodo baggert.  Egal ob er nun Bauer ist, einen sucht oder einfach nur Postbediensteter aus Mariazell & Umgebung sein möchte. Gesucht wird immer, gefunden auch, wenn auch manchmal nur bis zum Ende der aktuellen Staffel, je nach Gagenlage. Aber die meisten sind ja sowieso froh, für kurze Zeit den Deppen machen zu können, so hebt man sich dann  wieder zurück im vertrauten Umfeld, etwas ab und hat vielleicht sogar noch mehr als diese kurzen 15 Minuten Ruhm. Die vergehen ja wie im Flug; es ist alles so schnell gegangen.

Die Zeit vergeht auch wie nix vor dem TV-Gerät. Das Empfinden, dass man nichts gesehen hat, wird mehr je länger man vorm Kastl sitzt. Klingt komisch, ist aber so. Und was soll man denn fühlen? So sehr kann man sich doch auch nicht selbst bescheissen, dass man fünf verschiedene Sitcoms und anderes Comedygewäsch anschaut, um dann zu glauben, man habe in Quantenphysik maturiert. Es gibt ja angeblich so etwas wie das Gewissen, anscheinend gibt es aber auch so was wie einen intuitiven Qualitätsmesser. Aber leider nicht bei allen, wie es scheint. Und da meine ich gar nicht diejenigen, die das Programm an sich produzieren. Na, die sind nicht deppat. Aber ich will mich hier nicht mit potentiellen Produzenten anlegen. Sei es wie es sei.

Unser Fernseher kommt mittlerweile quer durch aller Länder Berichterstattung, die ja bis auf einiges Lokalkolorit in etwa das gleiche vermittelt: die Welt ist vorige Woche untergegangen und die restlichen Überlebenden müssen mit den letzten Katastrophen ihr Auskommen finden, ganz zu schweigen von allen anderen tagesaktuellen, die letzten Jahrtausende sich aber wiederholenden Verbrechen wie Korruption, Mord und ähnlichem menschlichen Grundverhalten. Möglicherweise spielen sie aber auch jeden Tag das selbe, oder aber sie haben so an die zwanzig Beiträge, die sie im Zufallsverfahren immer und immer wieder senden.

Das Chefmenü ist längst gegessen, die Plastikschale immer noch da und die begleitenden Biere für diesen Abend haben mittlerweile Einzug gehalten. Grundsätzlich unterstützen sie den Körper bei seinem Vorhaben sich etwas Ruhe zu verschaffen und sich der Berieselung mit TV Kostbarkeiten zu entziehen. Das scheint aber nur bedingt zu funktionieren. Beim Sekundenschlaf sind wir noch längst nicht angelangt, eher beim Bleisitz. Das ist der, den man beginnt zu akzeptieren, wenn man schon zu müde ist um noch z.B. aufs WC zu gehen. Man weiß man muss, es bedrängt einen ununterbrochen, jeder Gedanke  befasst  sich mit Wasser oder mit dem Abschlagen des selbigen, ist aber keine Unterstützung bei dem Vorhaben auch solche Ideen durchzuführen. Zum Bettgehen ist man sowieso zu Müde, das gesteht man sich ja eh ein, jedoch ist es erst kurz nach acht und man weiß einerseits, dass dies nur eine erste Phase ist, die ohnehin in Kürze wieder vergangen sein wird, und andererseits ist es eben erst kurz nach acht und man meint, man habe noch nichts gesehen. Also geht es schnurstracks ins Hauptabendprogramm.

Ich kann mich ja noch lebhaft an meine Kindheit erinnern. Also nicht nur daran, dass Mittwochs immer der Kasperl und Dienstags Universum war, sondern es hat im Fernsehen auch Filme gespielt. Und die sind ja mittlerweile so etwas wie Raritäten. Und mit Filmen meine ich nicht obskure Eigenproduktionen von der die Pichler Rosi die sogenannten Vorlagen verfasst haben soll und die sich die meisten Zuseher ohnehin ja nur  der schönen Landschaften wegen antun, fast so wie all jene, die den Playboy der Interviews wegen lesen.

Derzeit spielt es im Hauptabendprogramm hauptsächlich selbstproduzierte Liebesschnulzen, selbstproduzierten Sozialporno und Universum. Mittlerweile bin ich intellektuell in einem Alter, in dem ich mir schon Universum das eine oder andere Mal anschaue, die Pichler Werbeveranstaltungen bringen mich zum Erschaudern und die Sozialpornos machen mich aggressiv & traurig. Da kann man dann schon den Fernsehproviant Marke Gösser bis Stiegl verstehen und damit auch die Phase des Sekundenschlafs, der, wie der Name schon sagt, von relativ kurzer Dauer ist. Und hier gibt es zwei Möglichkeiten. Bleiben wir aber vorerst einmal bei Nummer eins: Unsere Hauptfigur schläft ein, während sie, sagen wir den Film X sieht. Der Sekundenschlaf weitet sich aus und nach geraumer Zeit wacht unser Freund vor laufendem Fernseher wieder bei Film X auf. Sagen wir fünf Minuten nach dem Geschehen, bei dem er sanft entschlummert war. Vergangen sind aber schon gute fünf Stunden und wir befinden uns bereits bei der Wiederholung dieses Machwerks der leichten Fernsehkost um 2:15 am darauffolgenden Tag. Dieser Umstand muss aber erst einmal entdeckt werden. Bei der nächsten Werbepause, und die sind zu dieser späten oder eher frühen Stunde nicht mehr so häufig wie im Hauptabendprogramm, wenn unser Freund wieder durch die nächtlichen Programme surft und auf dem einen oder anderen Sender wird er mit strenger Stimmer aufgefordert anzurufen, die Details der optischen Umsetzung dieser Aufforderung möchte ich hier aussparen.

Das bringt ihn dann wieder auf die richtige Spur und durch den Umstand des mehrstündigen Nickerchens, mit dem Umweg WC auch ins Schlafzimmer, denn dazu benötigt man etwas mehr Energie als nur um wach vor der Röhre zu sitzen. Was bei Möglichkeit zwei der Fall wäre:

Der Fernseher, ausgestattet mit mehreren Bieren schon, nickt immer wieder ein, wird aber umgehend munter und muss dringend auf die Toilette; geht aber erst nach einiger Zeit, quasi zu dem Zeitpunkt zu dem es keine Alternative mehr gibt. Am Rückweg meldet sich das, schon die letzten zwei Stunden latent Aufmerksamkeit heischende Hungergefühl und verlangt nach einem Happen. Der wächst sich, mangels realistischer Abschätzung, zu einem mitternächtlichen Einmanngelage aus, das am nächsten Tag sowieso wieder bereut werden würde. Nun sind wir aber in der Phase, in der der neue Tag anbricht, sich aber noch gut in der Nacht des vergangenen zu verstecken weiß. Seit es zumindest im öffentlich rechtlichen TV keinen Sendeschluss mehr gibt, der ja vielen Zusehern auch gleich mitteilte in welchem Land sie sich befanden, was bei Touristen, oder Geschäftsreisenden, die ja beruflich viel unterwegs sind auch seine Vorteile bringen mag, ist eine ungefähre Orientierung, wann denn der Fernsehtag vorbei wäre, nicht mehr aus eigener Kraft so einfach. Das sogenannte Programm läuft also weiter und, wie es die Natur meistens nach einem üppigen Mahl vom gerade noch Speisenden verlangt, fällt dieser in einen etwas unruhigen und nicht all zu tiefen Schlaf. Der Hauptdarsteller unserer Geschichte wird also immer wieder ein wenig munter, um sich umgehend dafür zu entscheiden, einfach liegen zu bleiben. Das TV-Gerät läuft weiter, manche Menschen nennen diesen Zustand Fernschlafen, strahlt ein wenig, gibt auch Licht ab, so braucht man kein Nachtlicht und hat auch, nicht zu laut aufgedreht, ein einschläferndes Mantra. Man sollte in diesem Stadium aber darauf achten, sich auf einem Sender zu befinden, der nicht  alle paar Minuten, zu dieser Stunden ohnehin aber eine Seltenheit, Werbeblöcke über den Äther schickt. Wie schon eingangs erwähnt bedienen sich diese Phasen der Programmverunstaltung einer etwas höheren Lautstärke; somit könnte das Schlafverhalten unangenehm beeinflusst werden, bzw. könnte die Ruhephase immer wieder unterbrochen werden. Das hat bekannterweise Auswirkungen auf das werte Wohlbefinden am nächsten Tag.

Ein wichtiger Punkt wäre zum Schluss noch zu beachten. All das Strandgut auf dem kleinen Beistelltisch vor dem ausziehbaren Polstermöbel, das so aber nie genutzt wird, kann mangels morgendlicher Freizeit erst nach Rückkehr am späten Nachmittag beseitigt werden. Das senkt einerseits die Stimmung, andrerseits ist es ein Zeichen von Kontinuität, wenn sie dort beginnen wo sie am Vortag aufgehört haben.


Auf Herz und Nieren

Er verließ die Toilette mit dem sicheren Gefühl, dass eine der Mahlzeiten, die er gestern zu sich genommen hatte, zu scharf gewesen sein musste. Nun würde er die kommenden Stunden mit diesem störenden und unangenehmen Gefühl verbringen müssen.

Er nahm ein neues Paar Einweghandschuhe aus der Pappschachtel und zog sie über seine Hände. Dann öffnete er die in Metall eingefasste Glastüre und betrat den Operationssaal. Von Saal im eigentlichen Sinne konnte hier keine Rede sein. Das hatte er auch schon oftmals überlegt. Der Raum hatte eher die Größe eines Wohnzimmers, das zwar geräumig, aber eben doch noch kein Saal war.

Dreimal die Woche war er hier, jeweils zwölf Stunden. Eine davon galt als Mittagspause, wurde aber bezahlt. Es war eine dieser Sozialleistungen, auf die der Vorstand so überaus stolz war. Er hatte diesen sterilen, keimfreien Raum wieder herzustellen. Zumindest in groben Zügen. Manchmal spielte er das Leben, das hier erhalten wurde, gegen das, das er  zu vernichten hatte, aus. Es war ihm natürlich klar, dass er ein Wegbereiter moderner Medizin war. Der eigentlich Ausführende von medizinischen Handlungen. Ohne ihn lief hier gar nichts. So hielt er sich bei Laune. Er war ein Rädchen im Getriebe, ein kleines, zugegeben, ohne dem sich die größeren und übergroßen aber nicht drehen konnten.

Er war der Mann fürs Grobe. Die Instrumente hatte er nicht zu reinigen und zu desinfizieren. Er hatte Böden und Interieur zu säubern. Blutspuren zu beseitigen. Die Mahnmale verlorenen Lebens, und jene von erhaltenen Lebens. Es war seine Sicht der Dinge. Seine Wahrheit. Jeder hatte eine. In der Wahrheit der anderen war er einer der Untersten. Einer von denen, die man nie zu Gesicht bekam, weil sie im Verborgenen agierten. Er begann, wenn alle anderen weg waren. Er war fertig, bevor die anderen mit ihrem Teil der Arbeit begannen. Und die, die den Hauptteil taten, kamen überhaupt erst danach.

Hierarchie hat den Sinn, dass eine nachvollziehbare Struktur für alle da war. Es gab bei einem solchen System keine Unklarheiten. Möglicherweise einige Unstimmigkeiten, die aber aus mangelnder Bereitschaft zu Unterwerfung resultierten. Das mochte ein Phänomen nicht nur hier sein;, es konnte überall auftreten. Und das tat es auch. In seinem Bereich wurde es nicht übermäßig wahrgenommen. Er arbeitete größtenteils autonom und hatte daher keinerlei, oder nur geringe Berührungspunkte mit anderen seiner Ebene.

Das war ein Vorteil für ihn. Die langen Jahre, die er hier schon diente, waren ihm dadurch erträglich gewesen, dass er nicht mit direkten Vorgesetzten und Kollegen konfrontiert war, die hinter seinem Rücken über ihn und hinter den Rücken anderer über eben jene schlecht sprachen oder gar intrigierten. Das Entgelt für seine Dienste war jährlich in einem annehmbaren Rahmen erhöht worden. Er hatte ein Auskommen, zwar ein bescheidenes, aber ihm und seiner Frau schien diese Art von Dasein gerecht und vor allem ehrlich vorzukommen. Sie beschwerte sich nicht und er hatte in den seltensten Fällen Gedanken, die sich um Geld oder Lebensqualität drehten.

Seine Lebensqualität war ausreichend für ihn. Er war eben genügsam. Und er hing an diesem Job. Er machte ihn gern, er hatte ihn lieb gewonnen und er nutzte ihn auch.

Er hatte herausgefunden, dass sich einige der Materialien und Utensilien, mit denen er es tagtäglich zu tun hatte, und mit denen er zugange war, von beträchtlichem Nutzen für ihn waren. Es waren Handlungen, die jeder, der die Gelegenheit dazu hatte, setzte. Zwei Skalpelle hatte er seiner Frau nach Hause mitgebracht. Sie verwendete sie zum Auftrennen von Kleidungsstücken. Sie lagen ihr gut in der Hand und waren von einer Schärfe, an die kein herkömmliches Nähutensil herankam.

Die Zeit, die er im Laufe der Jahre hier und in den anderen drei Sälen verbracht hatte, war von ihm insofern genutzt geworden, da er sich seine Gedanken machte. Zumindest waren das die Worte, die er benutzte, wenn er darauf angesprochen wurde, ob ihm seine Tätigkeit nicht zu monoton erschien.

Von der Wahrheit war er damit weit entfernt. Von seiner Wahrheit jedoch nicht. Er hatte sich dieses Bild zurecht gelegt und er war außerordentlich zufrieden damit. So wie all die anderen, die sich mit seinen Antworten zufrieden stellen ließen.

Es gab keinerlei offene Fragen. Er hatte sich selbst auf Herz und Nieren geprüft, und war zu dem Schluss gekommen, dass alles so seine rechtmäßige Ordnung habe.

Später, als er seine Kleidung aus seinem Spind nahm und sich umzog, freute er sich schon auf sein Heimkommen. Es würde zwar genauso gleich verlaufen wie jedes andere in den letzten Jahren, aber es gab ihm Halt. Veränderung wollte er keine und er würde auch keine zulassen. Er nahm eine kleine Kunststoffbox, wie man sie oftmals von Lieferdiensten bekommt, verschloss seinen Spind, steckte seine Schlüssel ein und ging.

Hinter ihm fiel die Metalltüre des Personaleingangs ins Schloss und er stand kurz da und machte sich auf den Weg zum Parkplatz, wo er sein Motorrad abgestellt hatte.

Wiener Handarbeit

Er bestellte einen kleinen Mokka & einen Otard. Sein Magen hatte zwar die letzte Woche über mit Regelmäßigkeit rebelliert, doch das war ihm jetzt egal. Er hörte überhaupt nicht auf Rebellion. Sie war ihm zuwider. Mit welchem Recht lehnte man sich auf? Mit dem Recht des Schwächeren? Der Unterdrückte war nicht umsonst der Unterdrückte. Er hatte es verabsäumt, im richtigen Moment aufzustehen, sich zu erheben, die Chancen zu nützen, seine Rechte zu wahren. Im Nachhinein konnte man immer schlauer sein, doch nicht mit ihm.

Er zündete sich seine dritte Zigarette an. Das mit dem Rauchen hatte er aufgegeben, auch darüber nachzudenken, ob es ihm schadete. Er hatte es schon so oft sein lassen, sodass er mehr Stress damit gehabt hatte, nicht zu rauchen, als es einfach zuzulassen. Niemand in seiner Familie war älter als 57 geworden. Sein Vater war letztes Jahr gestorben, mit nur 54 Jahren. Seine Mutter, sie hatte niemals geraucht, stand jetzt kurz vor ihrem 53. Geburtstag, und es sah nicht so aus, als ob sie es wäre, die den Bann der Familie brechen würde. Sie würde auch  dieses Jahr ihren Geburtstag wahrscheinlich wieder im Spital verbringen müssen. Sie hatte sich eine schwere Lungenentzündung zugezogen, nachdem sie 2 Monate mit einem komplizierten Bruch des Unterschenkels im Bett zugebracht hatte. Nun, es hatte auch etwas Gutes gehabt. Sie hatte von ihren 74 Kilo ganze 15 abgenommen. Und er hatte etwas mehr Abstand von ihr gewonnen. Die ewigen Anrufe waren nichts für seinen Geschmack gewesen. Seit dem Tod seines Vaters hatte sie entweder angerufen, dass er sie abholen und nachhause bringen sollten, oder dass er sie besuchen solle. Abholen musste er sie, wenn sie, wie so oft, zuviel getrunken hatte. Auch rief dann meistens nicht mehr sie an, sondern jemand der auf ihre Rechnung fleißig mittrank, oder der Kellner eines verstaubten, lang schon nicht mehr renommierten Cafés, der auch gleich noch die Zeche beglichen haben wollte.

Geld spielte keine Rolle. Hatte es nie gespielt. Also beglich er die Zeche. Sein eigenes Konto war immer gefüllt, dank der monatlichen Zuwendung seiner Mutter. Letztendlich Dank seines Vaters, der es verstanden hatte, zu Leben, und so nebenbei ein kleines Vermögen angehäuft hatte. Ein Kleines, wohlgemerkt.

Nun aber saß er an diesem kleinem Tisch. Neben ihm das Fenster, das spärlich Licht einließ. Andererseits war es an diesem nebligen Novembervormittag auch nicht wichtig, ob die Glasscheibe durchlässig genug war. Die Lampen die über den Tischen ihren gelblichen Nikotinschein zur Verfügung stellten, genügten vollkommen. Er hatte sich vorgenommen ein wenig darüber zu Grübeln, wie es nun weitergehen sollte, im Moment jedoch blätterte er in einer Tageszeitung mittleren Niveaus. Die Ablenkung hatte er jetzt notwendig. Er brauchte ein wenig Abstand, um einen klaren Gedanken fassen zu können.

Dienstag war es ihm noch gleich gewesen; da hatte er seine Hände voll Blut gehabt. Seine Hände und sein Hemd war getränkt in Blut und selbst sein Gesicht war von roten Spritzern bedeckt. Als er am frühen Morgen dann unter seiner Dusche stand, bemerkte er, dass auch sein Haar deutlich verklebt war. Das warme Wasser aber löste die Verbindung, die er mit seinem Opfer eingegangen war. Hellrot verfärbte es sich, um sich letztendlich am Ausfluss zu sammeln und in einer Spiralbewegung durch das Haarsieb zu verschwinden. Fast als ob der Regen das Geschehene ungeschehen machen wollte, wenn er mit seiner ureigenen Kraft von hoch oben mit Gewalt über die Straßen  einher brach und dann unendlich zärtlich die Schmutzschichten der städtischen Verschmutzung hinwegspülte, um letztendlich wieder ungesehen im Untergrund zu verschwinden. Sich seines Schicksals bewusst, diesem ewigen Kreislauf weiterhin ausgeliefert zu sein.

Die Abdrücke, die er auf seinem weißen Badezimmerboden hinterließ, würde er später entfernen. Erst einmal stellte er eine Tasse unter den Auslauf seiner Espressomaschine. Sie war natürlich verchromt und war eine, die mit diesen kleinen Aluminiumkapseln gefüttert wurde. Sollte doch die ganze Welt zum Teufel gehen. Er würde es ja sowieso nicht mehr erleben. Und warum sollte er sie auch noch sammeln. Die Mühe hatte er als Einzelner, die Konsequenzen bekam er aber von allen zu spüren.

Warum er diesen Typen vor drei Monaten angesprochen hatte, war ihm entfallen. Oder aber hatte er es geschickt verdrängt, um nicht im Nachhinein das Warum ergründen zu müssen. Wahrscheinlich war das wieder ein Grund, um zu Fauner zu gehen, der Einzige, der es wirklich verstand, ihm zu helfen, zumindest hatte er den Eindruck.

Es musste in der Josefstadt gewesen sein, in diesem Lokal, das er schon geraume Zeit nicht mehr besucht hatte, sich aber an diesem speziellen Abend dazu entschlossen hatte, wieder hinzugehen. Im Nachhinein war es ihm auch ein Rätsel, warum? Nun, in der Vergangenheit hatte es oftmals das illusterste Publikum versammelt und an diesem Abend war einfach wieder einmal das Verlangen nach etwas Ausgefallenem größer als seine Vernunft. Und natürlich wurde er fündig. Nach zwei turbulenten Nächten beschlossen beide, dass es einfacher wäre, wenn sie bloß eine Wohnung benutzen würden. Also gab er seinen Schlüssel für alle Fälle ein weiteres Mal aus der Hand, sprich, er holte ihn aus der ersten Lade des Garderobenschranks seines Vorzimmers. Was danach geschehen war, hatte er nur noch verschwommen in Erinnerung. Es musste kurz vor Ende letzter Woche geschehen sein. Da war es über ihn gekommen. Eigenartigerweise hatte er es schon erwartet. Er war sozusagen schon überfällig gewesen. Im Normalfall dauerte es zwischen sechs und acht Wochen bis er den Drang verspürte,  nun hatte es sich anscheinend verzögert eingestellt. Im Endeffekt war das aber von geringer Bedeutung. Er hatte seinem Drang nachgegeben und seinen Beischlafpartner der letzten Monate, so wie schon alle anderen zuvor, im Schlaf getötet. Weitere Ausführungen über den Hergang der Tat möchte ich der geneigten Leserschaft ersparen. Das Ausmaß der Verschmutzung der Wohnung bzw. der Kleidung der Hauptperson sei ein kleiner Hinweis. Es hatte an die zwei Tage gedauert alle Spuren der Tat zu beseitigen. Das heißt, alle offensichtlichen & peripheren Spuren. Den Leichnam hatte er, wie schon so oft, erst innerhalb von 2 Wochen in etwa 22 gleichgroßen Teilen in den umliegenden Bezirken seiner Wohnadresse verbracht. Man kann sagen, dass er Übung darin hatte.

                Und nun saß er da, vor ihm das leere Glas und die Schale Kaffee. Der Aschenbecher hatte in der Zwischenzeit zwei weiter Zigarettenstummel aufnehmen müssen, war danach aber durch einen neuen & sauberen ersetzt worden. Allmählich verspürte er ein schleichendes Hungergefühl in sich aufsteigen. Er hatte wie jeden Morgen nicht gefrühstückt. Möglicherweise war diese Angewohnheit in seiner Kindheit gefestigt worden. Einerseits waren seine Eltern so gut wie nie da, um ein gemeinsames Frühstück einzunehmen, andrerseits war er am Morgen so gut wie immer im Stress, um pünktlich in seine Schule zu kommen oder später dann zu seinen Vorlesungen; obwohl da waren seine Beginnzeiten eher fließend.

Er würde nun also bezahlen und sich auf den Weg in die Innenstadt machen. Hier wollte er Nichts essen. Er hatte es zwar ein- oder zweimal schon getan, gerechtfertigt aber nur durch äußerste Not und später Stunde. Draußen nieselte es ein wenig. Er stellte seinen Mantelkragen auf und hielt ihn zusammen. Er würde sich ein Taxi heranwinken, sollte er eines sehen. Die Fahrbahn hatte einen wagen Schimmer und die vorbeifahrenden Wagen machten dieses für solch ein Novemberwetter  typisches Geräusch. Er fühlte sich, trotz der feuchten Kälte wohl. Es war ihm immer schon ein Rätsel gewesen, warum manche seiner Mitmenschen sich darum schlugen in einem Flugzeug gegen Süden zu fliegen um dort an überfüllten Hotelbars sich täglich mit All-inclusive Cocktails zu betrinken. Den Sinn dahinter verstand er nicht. Er war nie einer dieser Hamster im Laufrad gewesen, die sich nach ihren fünf Wochen Urlaub sehnten, die dann, genau geplant, fern der üblichen Tretmühle absolviert wurden. Meist im All-inclusive Club irgendwo, wo das Bodenpersonal noch überzeugend Demut heucheln konnte und die Blechhütten der gemeinen Bevölkerung nicht die Urlaubsfotos verschandelten. Andrerseits war es schon eine Option, die regionalen Nutten einmal zu testen. Abwechslung in Farbe und Geruch, das Alter spielte dabei keine Rolle, sie sollten nur nicht zu jung sein. Ab zwölf war schon ok.

Der Wagen blieb stehen und der Fahrer drehte sich zu ihm um. Die 14 Euro hatten sich ausgezahlt. Er wollte bei diesem Wetter nicht so lange im Freien unterwegs sein. Die öffentlichen Verkehrsmittel waren um diese Zeit zwar noch nicht überfüllt, der eigentümliche Geruch der Fahrgäste, der bei Regenwetter immer entsteht, war ihm aber zuwider. Das hatte man immer schon an ihm bewundert. Er wusste was er wollte. Schon damals, als er noch ein aktiveres Umfeld hatte, war ihm ganz genau bewusst gewesen, wo diese unsichtbare Grenze verlief, zwischen seinen Idealen und seinen Abneigungen, dazwischen war so gut wie Nichts. Heute war er noch viel gefestigter darin. Einerseits lag das bestimmt an den vielen Jahren die vergangen waren, andrerseits an dem Faktum, dass er schon lange Zeit alleine lebte und sich so nicht mit anderen arrangieren musste. Kompromisse waren ihm ja sowieso immer zuwider gewesen. Eine Verwässerung seiner Grundsätze, nannte er diese. Nun gut, es lag Jahre zurück, dass er zuletzt solche Zugeständnisse hatte machen müssen .

“Beim Burgtor am Michaelaplatz” ging ihm durch den Kopf. Es war dieses alte Lied, das er so oft hören musste, weil seine längst verstorbene Verwandtschaft immer wieder diese Platten mit alten Wienerliedern hervorholte. Natürlich an Wochenenden, an denen die gesamte, noch lebende Familie zugegen war, und nicht die Möglichkeit zur Flucht hatte; weil es regnete oder weil es das eben nicht tat.

Heute nieselte es ein wenig. Der Himmel war vom Morgengrauen an schon verhangen gewesen und es schien, als würde man durch einen feuchten Vorhang gehen. Kein Regen, sondern feuchte Verbindungen vom Himmel zur Erde, oder das, was man daraus gemacht hatte. Er sah sich die Ansichtskarten, die diese wunderbaren Motive, von denen Touristen überzeugt waren, dass sie die Sehenswürdigkeiten der Stadt  zeigten, an und schien richtig daran interessiert. Wieso gab es unzählige Male dasselbe Motiv aus den ähnlichsten Winkeln abfotografiert? Reichte da nicht eine, sozusagen der Klassiker? Die Rückseiten waren ja auch ziemlich dieselben, darüber schien sich keiner fruchtbare Gedanken zu machen. Eine Marktlücke, schmunzelte er in Gedanken und ging weiter. Die Tageszeit war schon so weit fortgeschritten, dass der nächste Tag näher als der vergangene war. Nun ein Mittagsmahl, das ja der eigentliche Grund seiner Standortverlegung gewesen war. Es gab hier ja einige Lokale von Belang für ihn. Mahlzeiten zu sich zu nehmen war im Eigentlichen eine Zwangshandlung für ihn. Die Zeit danach, die er damit verbrachte die anderen Menschen ringsum zu beobachten und seinen Alkoholspiegel auf  Stand zu bringen, war ihm an dem ganzen Spektakel das Liebste. Nicht dass er ein zwanghafter Trinker gewesen wäre, dass er seine tägliche Dosis brauchte, ohne die ihm der Tag sinnlos & leer erschien, es war eher die Gewohnheit, die Rauch & Alkohol für ihn ausmachten. Daheim trank er so gut wie nie, oder bleiben wir bei der Wahrheit, spärlich. Gut, in den letzen Wochen hatte er wieder mehr getrunken. Er hatte auch mehr geraucht, das bemerkte er immer erst dann, wenn er wieder weniger rauchte; es schien ihm dann um einiges besser zu gehen. Seine Speisenwahl war dann dementsprechend bewusster. Der panierte Fisch war seiner Ansicht nach etwas Gesundes. Mit Kartoffeln, die zu einem Salat verdammt worden waren, der mit Senf & Mayonnaise seine Geschmacklosigkeit zu umschiffen versuchte. In diesem Fall war das sozusagen eine Leichtigkeit. Sein Verlangen nach Sättigungsbeilage war verschwindend gering und somit aß er nur ein oder zwei Gabelbissen von dieser kulinarischen Untat. Er hatte zu seiner Mahlzeit einen trockenen Weißwein bestellt & auch prompt bekommen. Getrunken hatte er vor dem Essen und jetzt, nachher, trank er schon das dritte Glas. Direkt zur Mahlzeit trank er nie. Das Vermengen von Speisen und Getränken war ihm schon immer zuwider gewesen. Leute die ihre vollen Mäuler beim Frühstück mit Kaffee spülten, oder die Mittags die Schnitzelbrocken mit Hilfe eines Softdrinks, wie man diesen Dreck ja hochoffiziell nannte, hinunterwürgten, waren ihm immer verdächtig vorgekommen. Verdächtig blöde & geschmacklos. Das mit großer Sicherheit, oder an Wahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit, wie es auch so schön hieß.

Hatte er aber diese Art Menschen früher verachtet, so bemitleidete er sie heute. Möglicherweise machte das keinen großen Unterschied für die Betreffenden, für ihn aber bedeutete es eine Veränderung, hin zur Verbesserung. Er bedauerte ihre selbst verschuldete Auslieferung an mindere Genüsse. War es nicht besser einen reifen, duftenden Apfel zu verspeisen als sich undefinierbar-geruchloses, gleich aussehendes und gleich unschmeckendes Retortenobst, zuzuführen?  Nun ja, es änderte Nichts daran, dass er zu seinem fünften Glas Wein überging. Er würde danach zahlen und sich, den Graben querend, auf den Weg zu einem winzigen Lokal machen, in dem er Weitertrinken wollte.

Das Wetter hatte ein wenig angezogen, es war merklich kälter geworden und das Nieseln hatte etwas nachgelassen. Die Luft war feucht und hinterließ auf Haar und Mantel ihre Spuren. So wie seine Absätze auf den polierten Pflastersteinen.

Er schritt die engen Gassen mit den hohen Häusern entlang, die man ja gebaut hatte, um sich darin nicht zu verlaufen bzw. um klein zu bleiben. Jedes Beten schien hier wie ein Fluch.

Er hielt vor dem Fenster seines Ziels und sah, dass bis auf zwei zahlende Gäste, sich niemand im Inneren aufhielt. Er trat ein und entledigte sich umgehend seines Mantels. Der war ihm mittlerweile schon schwer und so hängte er ihn auf den Haken, der hinter dem Tisch an der Wand hing, an den er sich setzte. Es war nun Bier an der Reihe. Bier mit regelmäßigen Bittern. Die schienen ihn wieder einmal in eine bestimmte Stimmung zu bringen. Eine Stimmung, die er immer wieder versuchte heraufzubeschwören, eine Stimmung, die ihn zufrieden stellte und gleichzeitig anregte, das aber nicht zu offensichtlich.

Die Tische hier waren immer noch diese Resopalplatten auf einfache Rundstützen geschraubt, die nur noch in solchen Einrichtungen anzutreffen waren.  Sechzigerjahre Flair nannte man das wohl heute. An der Bar standen drei Hocker, fest im Boden verankert, der mit Linoleum ausgelegt war. Das beste aber schien ihm der Zigarettenautomat im Windfang, der selbst schon den Platz eines ganzen Tisches wegnahm, der Modernisierung aber nie hatte weichen müssen. Was hier aber wann modernisiert worden war, konnte man heute nicht mehr so genau sagen. Waren es die kitschigen Lampen, die die Wand  verunstalteten, oder war es die Speisekarte, die sich im Laufe der Jahre, unter der Last der Bilanz, hin zu aktuelleren Wünschen wie Toast und “Energie”-Drink gewandelt hatte. Es gab diese, für diesen Platz hier exotischen Gastronomiebeigaben, sie wurden jedoch selten gewünscht. Gegessen wurde hier vielleicht ein Gulasch, so oft aufgewärmt, dass es nicht mehr nachvollziehbar war, wann es denn gekocht worden war. Schnitten für die Damenwelt gab es auch. Ansonsten, was der Zufall wollte. Um die Osterzeit standen Körbe mit gekochten Eiern auf den Tischen. Salz kostete extra.

Es schien heute sehr ruhig zu sein. Normalerweise hätte sich in den ersten zehn Minuten nach seiner Ankunft schon ein Gespräch entwickeln müssen; heute war es anders. Entweder hing er zu sehr seinen eigenen Gedanken nach und die anderen merkten das und versuchten gar nicht ihn anzusprechen, oder aber er reagiert nicht auf die unterschwelligen Einladungen ein Gespräch zu beginnen. Es war möglicherweise nicht seine Bestimmung für diesen Tag. Diese wäre eine gänzlich andere, er sollte das noch bemerken, bevor er am Boden liegend im Regen verbluten würde. Jetzt aber wandte er sich dem Fenster zu, das einen Blick auf die spärlich belebte Gasse freigab, holte seine Zigaretten aus der linken Sakkotasche und steckte sich eine davon in den Mund. Beim Aufflammen seines Feuerzeugs wurde ihm gewahr, dass es draußen schon dämmerte. Er sah auf die Uhr und sie zeigte halb fünf nachmittags.

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