Leseprobe
1 - Tote Augen am Morgen
„Im Sommer hab i vü öfters an Steifen, Herr
Inspektor.“ Der Unterstandslose Josef Hirtal hielt keinerlei Information
zurück. Das sollte der Polizei eigentlich positiv auffallen.
Mittlerweile schien es aber des Guten zu viel gewesen zu sein. Albin
Kemmer, 43, Revierinspektor in Wien-Simmering, Koat (= Kommissariat)
Kaisereberstorferstrasse 290, hatte sein schwarzes Notizbuch zugeklappt
und in seiner linken Brusttasche verstaut. Letzte Weihnachten hatte er
es von seiner Frau bekommen, die zwischenzeitlich den gemeinsamen
Haushalt aber verlassen hatte, um mit seinem
Vorgesetzten Martin Pollak zusammenzuleben, damit er notieren
konnte, was nach seinem Dienst noch schnell im Supermarkt zu besorgen
sei. Mit brachte er immer etwas, sie war damit in der Regel aber nicht
zufrieden gewesen.
Es war Sonntag, der 19. Juli 2015. Der bisher
heißeste Tag im Jahr. Das Thermometer hatte seit Beginn der
Aufzeichnungen noch nie so hohe Temperaturen in dieser Häufigkeit
angezeigt, und es sollte noch heißer werden. Josef Hirtal hatte sich,
wie schon so oft in warmen Monaten, in Wien Simmering, nahe der
Stadtgrenze, am Friedhof der Namenlosen ein Nachtlager zurecht gemacht.
Er hielt sich dort von kurz nach der Dämmerung bis zum Erwachen in
strahlendem Sonnenschein, etwas abseits auf. Würde man ihn hier
unerwarteterweise in seiner improvisierten Bettstatt vorfinden,
bekleidet lediglich mit einer Unterhose, deren Farbenspiel einem
verschmutzten Regenbogen gleichkam, zwischen all den verwitterten
Gräbern, Kreuzen und Steinen, es wäre eine groteske Situation. Hirtal
benutzte diesen Platz seit einigen Jahren, er hatte sich sozusagen schon
eingelebt und sich das Hausrecht durch beharrliche Konsequentnutzung
gesichert. Vor drei Jahren hatte er damit begonnen, an der nordöstlichen
Einfriedung ein wenig Gemüse zu ziehen, um gerade genug vitaminreiches
Beiwerk zu seiner ansonsten hochprozentigen Diät zu haben. Er hatte es
geschickt angestellt zwischen mehreren hohen Büschen, uneinsichtig für
die wenigen Besucher, die hierher kamen, eine Reihe von Pflanzen
gedeihen zu lassen, die ohne viel Pflege und Aufwand wuchsen.
Gerade eben dort, wo einst dieser Friedhof sich
befunden hatte, im Laufe der Jahre mit vielen Überschwemmungen aber nur
noch als Erinnerung vorhanden war.
Am Morgen war Josef Hirtal kurz vor sieben Uhr
aufgewacht. War es das Motorengeräusch eines Wagens gewesen oder hatte
ihm seine Fantasie einen Streich gespielt, er konnte sich nicht mehr mit
Bestimmtheit daran erinnern. Hirtal öffnete verschlafen seine Augen und
setzte sich ein wenig auf. Mit einem Schlag war er hellwach. Ihm
gegenüber, an die Rückseite eines verwitterten Kreuzes gelehnt, befand
sich ein offensichtlich lebloser Körper.
Und so hatte sich Hirtal in größter Eile seine zwei
Nummern zu große Hose angezogen, war in seine Schuhe geschlüpft, die
ausnahmsweise einmal wie angegossen passten, und hatte seine
Habseligkeiten eilig zusammengesucht, um dann den Ort des Geschehens zu
verlassen. Wie sollte er erklären, was er zu dieser frühen Stunde an
einem Sonntag dort zu schaffen hatte? Womöglich würde die Polizei den
Friedhof etwas genauer unter die Lupe nehmen und seine kleine, aber
spezielle Plantage vorfinden. Für die Sommermonate müsste er sich dann
einen neuen Platz zum Schlafen suchen und somit die Exklusivität seiner
derzeitigen Unterkunft verlieren. Abgesehen davon, war einem Kontakt mit
den Hütern des Gesetzes grundsätzlich auszuweichen. An Behörden und
dergleichen anzustreifen war zu vermeiden. Solche Bekanntschaften
brachten im Grunde nichts wie Probleme mit sich. Meistens. Hirtal, der
nun in Richtung Straße ging, begann aber nun auch an die spärlichen
Vorteile einer solchen Begegnung zu denken. Waren die richtigen Beamten
im Dienst, jene die ihre Uniform zu Recht trugen und somit die
Staatsgewalt zu repräsentieren in der Lage waren, gab es zumindest
Zigaretten, Kaffee und mit viel Glück auch die eine oder andere karge
Mahlzeit; angefangen von Wurstsemmeln oder was sonst gerade am Koat
vorzufinden war. Im Extremfall ging es zu einem Wirten in der Umgebung,
bei dem dann auch eine warme Mahlzeit heraussprang. Auf der anderen
Seite, konnte es aber auch passieren, dass die Beamten noch relativ
junge Kappelträger waren, die grundsätzlich ihre Uniform ausnutzten,
sich darin stärker als andere fühlten - und vor allem als etwas
Besseres.
In diesem Falle gab es mitunter eine Hand voll
Watschen, von denen aber niemand, der vielleicht sonst noch gerade
Dienst tat, etwas mitbekommen haben wollte. Nicht, dass die Wiener
Polizei nur aus aggressiven und einfältigen Schlägern bestand, im
Gegenteil, da taten viele Beamte täglich ihren Dienst mit Verantwortung
und Feingefühl, schlichteten den einen oder anderen Familienstreit,
bevor er eskalierte, und kümmerten sich darum, dass zumindest ein
gewisses Maß an Sicherheit der Bevölkerung vermittelt wurde. Gegen die
Negativbeispiele, die medial oft ausgeschlachtet wurden, war es schwer,
sich zu behaupten und das Bild der Polizei wieder ins freundlichere
Licht zu rücken.
Hirtal dachte an seine Unterkunft, die er schon so
lange bewohnte und daran, an den Toten gegenüber, und dass mit den
heutigen Methoden der Spurensicherung es leicht wäre, daher eine
Verbindung zu ihm herzustellen. Er hatte bereits das eine oder andere
Mal schon eingesessen und war deshalb wohl auch leicht zu
identifizieren. Vielleicht hatte er Glück, vielleicht aber auch nicht;
und so entschied er sich doch, den schweren Weg zum Koat
Kaiserebersdorfer Strasse anzutreten, um von seiner Entdeckung am frühen
Morgen zu berichten. Hirtal
läutete an der Gegensprechanlage, die seit vielen Jahren nun schon eine
Art Erschwernis war, ein Wachzimmer zu betreten. Ob man damit den
Parteienverkehr einschränken oder gefährliche Zeitgenossen auf Distanz
halten, und erst einer eigehenden Prüfung unterziehen wollte, bevor sie
eingelassen wurden, war nicht so ganz klar. Jedenfalls summte im Fall
Hirtal der elektronische Türöffner und der Unterstandslose konnte
ungehindert eintreten. Als aufmerksamer Beobachter bemerkte Hirtal
umgehend die Sonntagsbesetzung. Oder waren die Beamten vom Nachtdienst
noch da? Es war eigentlich egal und Hirtal dachte bei sich, dass er nun
wohl sein Anliegen vorbringen sollte, denn die zwei Augenpaare, die auf
ihn gerichtet waren, vermittelten eine gewisse Ungeduld.
„Morgen, die Herren.“
„Ja, morgen. Was gibt‘s denn?“
„A Leich, Herr Inspektor.“
„A Leich, aha, wo denn?“
„Am Friedhof, Herr Inspektor, bei so an Grabstein.“
„Sowas aber auch. Kummens amoi her.“
Hirtal geht dem Beamten entgegen, der ebenfalls auf
ihn zugeht, vor ihm stehen bleibt und sich zu ihm, tief einatmend, etwas
hinunterbeugt: „Ham sie wos trunken.“
„Herr Inspektor, i hab heut no nix trunken. Und
schauens mi ned so an. I hab a Leich gfunden am Friedhof.“
„Am Friedhof san grundsätzlich Leichen, das is
beabsichtigt. In ihren Alter solltens des scho wissen.“
„I waaß des eh, da liegt aber a Leich, die dort ned
hingheat, zumindest jetzt no ned.“
„No amoi von vorn. Sie haben eine Leiche gefunden.“
„Sog i ja, Herr Inspektor. A Leich, am Friedhof.
Friedhof der Namenlosen.“
„Aber der is ja gar nicht mehr in Betrieb, das ist
ja mehr ein Museum, quasi.“
„Ja, aber wie i heut in der Fruah aufwoch, liegt da
die Leich und schaut mi an.“
„Wie bitte schaut a Leich?“
„Na, ned so direkt. Aber die Augen waren offen. Was
glaubns wie i mi daschrocken hab.“
„Setzen sie sich bitte da her. Hams einen Ausweis
mit?“
„Ja klar, Herr Inspektor.“
Josef Hirtal kramt aus seiner Sakkoinnentasche
einen Reisepass heraus. Der ist zwar schon vor gut zehn Jahren
abgelaufen, zur Identitätsfeststellung reicht er aber allemal. Er öffnet
ihn und reicht ihn aufgeschlagen mit seinem Bild dem Beamten entgegen.
„Fesch, a Firmungsphoto?“
„Naja, kana wird jünger, Herr Inspektor.“
„Ja, eh. Also, ihr Name ist Josef Hirtal. Wohnhaft,
wo?“
„Naja, hier und da. Wenn i an Platz find, wos schee
is und ned zu koid, dann in der freien Natur. Freie Wildbahn, wenns
wissen, wos i man. Im Winter-“
„Unterstandslos also; kein fester Wohnsitz schreib
ma.“
„Ja, schreibens des, ein ewig Suchender.“
„Gut, sie sind a Fisch?“
„Ja, 15. März. Wos in Cäsar hamdraht haben.“
„Neunzehnhunderteinundsechszig.“
„Genau; 61er Jahrgang. No vor die Beatles.“
„Und jetzt erzählen sie mir bitte, ganz genau, was
sie beobachtet haben.“
„Es war so, Herr Inspektor, i hab gschlafen. Aber
irgendwas hod mi dann aufgweckt. I waaß nimma wos genau. A Auto,
vielleicht; so wia wenn ma die Tia zuhaut, oder a Motor, i waaß nimma.
Vielleicht hab is aber a nur tramt. Oiso i bin munter, mach die Augen
auf, da schaut mi ana au. Wos glaubens, wias mi grissen hod. Des woa ka
Lercherl.“
„Erzählens weiter.“
„Na lahnt do ana, mir gegenüber an an Kreuz.“
„Was machen sie eigentlich am Friedhof?“
„Schauens, Herr Inspektor. Jetzt, wos so haaß is,
schlof i durtn. Es is ned weit vom Wossa, da hat ma a bissl a Obkühlung
a und i muass sogn, ma hod sei Ruah, am Friedhof.“
„Is das ned a bissl makaber. Ich mein, manche
fürchten sich dort wahrscheinlich.“
„Herr Inspektor, vor wen sollt i mi durtn fiachtn?
Die san doch eh olle scho gsturbn. Und nächtliche Besucher gibt‘s da
eigentlich kane. Wissens, wenn i mi irgendwo im Park hinleg oder so, da
hab i ka Ruah. Erstens amoi is im Park in der Nocht sowieso highlife,
was glaubens wievü durtn schnackseln. Daun die Bsoffanen, de san laut,
da kann kana schlofn dabei und wennst dann eischlofst, entweder wochst
auf und es föht da wieder irgendwos oder du wochst auf weil di grod ana
birnt. Ned leiwand, des kennans ma glauben. Und durt am Friedhof, de
reinste Söhligkeit.“
„Na gut, ich möchte auf das gar nicht eingehen.
Dass es nicht erlaubt ist, ist Ihnen vielleicht schon klar.“
„Herr Inspektor, was ollas so nicht erlaubt ist,
ich glaub des waaß eh a jeda, aber wer hoit si denn scho dran. Kana.“
„So wurscht is das aber trotzdem nicht.“
„I werd mi bessern, Herr Inspektor. Aber i tua
niemanden wos, es hot si no kana beschwert.“
„Erzählens weiter.“
„Naja, es gibt nimma so vü. I siech die Leich,
kriag an mordstrum Schrecken, pack mi zsamm und renn da her. Jetzt sitz
i do. Gengans, hättens an Kaffe fia mi. Und a Zigaretterl, vielleicht?“
„Heast Reini, bringst uns bitte an Kaffee für den
Herrn Zeugen“ und zu Hirtal gewandt: „Rauchen dürfens da herinnen eh
nimma. Ist ein öffentliches Gebäude und da ist es ja seit a Zeitl schon
verboten.“
„Ja, verboten. Boid is eh ollas verboten, Herr
Inspektor. Gott sei Dank derf ma no scheißen wia ma wü. Stöns ihna vua,
des Scheißen wa a verboten, do zreissats an jo, vua lauter Verbot.“
„Möglich.“
Reinhard Wladowec kommt mit einem Becher Kaffe
zurück und stellt ihn vor Hirtal hin. Der greift gleich zu, nippt davon
und verbrennt sich die Zungenspitze.
„Hui, haaß is er.“
„Der ist frisch, oiso is er auch heiß. Gut Herr
Hirtal. Machen wir uns auf den Weg. Sie zeigen uns jetzt den Fundort,
damit wäre vorerst alles erledigt.“
„Aber gengans, Herr Inspektor, sie finden dort
sicher a ohne mi hin.“
„Das sicher, Herr Hirtal, aber Sie müssen trotzdem
mit uns gehn, es dauert eh nicht so lange.“
Auf dem Weg zum Friedhof erzählt Hirtal in groben
Zügen seine Lebensgeschichte. Albin Kemmer weiß nun, dass Hirtal
eigentlich gelernter Steinmetz ist, oder, nach seiner eigenen Diktion,
Bildhauer. „Davon kann ma aber ned leben, Herr Inspektor.“ Deswegen gab
es eine ganze Menge an Gelegenheitsjobs, die aber allesamt, nicht allzu
lukrativ gewesen waren. Deswegen auch der Abstecher auf die schiefe
Bahn. „Es is afoch vüzvü zsammkommen, Herr Inspektor. I hab ja ned
wissen können, dass der Charly den an umschiasst. I hab ja ned amoi a
Krochn ghabt; aber wissens eh, wenns dabei woan, woans dabei. Und i bin
ocht Joa am Sta gsessn. Da kummt ma nimma so afoch wieder hoch.“
Am Friedhof angekommen, zeigt Hirtal willig seinen
Schlafplatz, der auch gleichzeitig den kurzen Aufenthaltsort der Leiche
darstellt. Kemmer macht sich einige Notizen und sagt dann: „Haben sie
hier irgendetwas verändert?“
„Nix, Herr Inspektor. Da hab i an Respekt, vor ana
Leich. Außerdem bin i ja glei weg.“
„Gut, Herr Hirtal, danke. Ich brauch sie jetzt
nicht mehr. Das wars. Gibt es eine Möglichkeit Sie zu finden, wenn wir
von ihnen noch etwas brauchen?“
„Naja, Herr Inspektor, wie gsogt, i bin eh in der
Gegend, zumindest solangs no woam is.“
„Dann könnens jetzt gehen. Hier-“ Er hält Hirtal
eine Packung Camel hin, die dieser auch gleich nimmt.
„Danke, Herr Inspektor, Se woan ma glei
sympathisch.“
In diesem Moment trifft auch schon die
Spurensicherung samt Beamten in Zivil ein und Hirtal macht sich
schnurstracks auf den Weg. Zu viel Kontakt zur Exekutive muss nicht
sein, denkt er sich, schon gar nicht am Sonntag.